Nahostkonflikt: Antizionismus ist nicht Antisemitismus. Und die meisten Zionisten sind keine Juden.
Antisemitismus ist momentan ständig in den Schlagzeilen. Israels Premier nennt nicht nur den Vorwurf, Israel begehe in Gaza einen Genozid antisemitisch, sondern auch amerikanische Studierende, die einen Waffenstillstand fordern. Was Israel tut, provoziert in der Tat antisemitische Akte gegen Synagogen, jüdische Schulen und sogar gegen einzelne Juden. Da ist es wichtig, zu verstehen, was Antisemitismus ist und was nicht – und wie er sich vom Antizionismus unterscheidet.
Antijüdische Handlungen gibt es in Europa seit mehr als tausend Jahren. Der Begriff „Antisemitismus“ wird aber erst seit dem 19. Jahrhundert verwendet – zuerst als Selbstbezeichnung von Judenhassern, später als Beschreibung des Hasses auf die Juden, die dabei als Angehörige einer „Rasse“ aufgefasst werden. „Rasse“ wiederum ist ein Konzept, das für die Ausbreitung des Kolonialismus entscheidend war. Rassismus galt als legitim und wissenschaftlich begründet. Er behauptete die Minderwertigkeit aller Juden, Afrikaner, Asiaten und anderer; er führte Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts zu Massakern an Millionen von Menschen in Belgisch-Kongo, zu den Genoziden, die Deutschland zur gleichen Zeit im heutigen Namibia verübte – und dann, kaum dreißig Jahre später, zur Vernichtung von Millionen Juden, Slawen, Roma und anderen „Untermenschen“ in Europa. Antisemitismus ist also eine Form des Rassismus. Zuvor galten Juden normalerweise als Angehörige einer Konfession, was ihnen durch einen Übertritt zum Christentum die Möglichkeit eröffnete, Diskriminierung und Verfolgung zu entgehen. Sobald es aber um eine „Rasse“ ging, gab es keinen Ausweg mehr, wie die Vernichtung von 1941-45 eindeutig bewies.
Der Antizionismus hingegen bedeutet die Ablehnung einer politische Bewegung, des Zionismus, der gegen Ende des 19. Jahrhunderts in Europa entstand. Ihr Gründer, Theodor Herzl (1860-1904), alarmiert angesichts des Antisemitismus, strebte die Gründung eines Judenstaates an. Der Zionismus entstand zu einer Zeit, als der ethnische Nationalismus und das Selbstbestimmungsrecht der Völker allenthalben hoch im Kurs standen, so in Griechenland, Deutschland, Italien und anderswo. Der Zionismus betrachtete die Juden als ein eigenes Volk oder eine Rasse. Diesem sei die Integration in die europäischen Gesellschaften unmöglich gewesen und daher benötige es einen eigenen Staat.
Die Bewegung förderte die Kolonisierung Palästinas und gründete Institutionen wie den Jewish Colonial Trust (1899) und die Palestine Jewish Colonisation Association (1924). Die Siedlungskampagne schuf im Rahmen des britischen Mandats eine eigene Wirtschaft und Gesellschaft – und marginalisierte die einheimische Bevölkerung, wo sie nicht versuchte, sie sogar zu verdrängen. Das provozierte einen Widerstand, der in gleicher Weise entstanden wäre, wenn die Palästinenser von Franzosen oder Chinesen kolonisiert und misshandelt worden wären. Die Ablehnung Israels und des Zionismus, der Gründungsideologie des Landes, hat also einen politischen Ursprung.
Der Zionismus war von Anfang an eine Revolte gegen das traditionelle, rabbinische Judentum, das sich weltweit seit fast zweitausend Jahren entwickelt hatte. Die neue Bewegung spaltete die Juden und stieß auf religiösen wie politischen Widerstand. Das hat sich bis heute nicht geändert: Ultraorthodoxe Juden stehen auf Anti-Israel-Demonstrationen oft neben progressiven jüdischen Aktivisten. Man erinnere sich nur an die jüdischen Demonstrationen im November 2023 an der Freiheitsstatue in New York, bei denen Freiheit für Palästina gefordert wurde.
Wie jeder Nationalismus neigt der Zionismus dazu, Keile in die Gruppe zu treiben, in deren Namen er aufzutreten vorgibt. Dabei sind Juden, die ihn ablehnen, so normal wie Quebecer oder Katalanen, die keine politische Unabhängigkeit wollen. Viele Juden begrüßten die Gründung des Staates Israel 1948, andere lehnten sie ab. Heute ist es die Tragödie der Palästinenser, die diese Spaltung unter den Juden vertieft.
Die Verquickung von Juden mit Israel – des Judentums als Weltreligion mit der politischen Idee des Zionismus – leistet dem Antisemitismus Vorschub. Das geschieht regelmäßig durch Israel und pro-israelische jüdische und christliche Gruppen. Israel fördert diese Assoziation, indem es sich (2018 in einer knappen Parlamentsentscheidung) zum „Staat des jüdischen Volkes“ erklärt, obwohl die Hälfte der Juden nicht dort lebt und immer mehr junge Juden es ablehnen. Im Übrigen nutzen die Unterstützer Israels rund um die Welt dieses Amalgam, um Kritik an Israel als antisemitisch zu brandmarken.
Diejenigen, die als Juden ihre Solidarität mit Israel erklären, fördern diese In-eins-Setzung und schüren so, zweifellos ohne es zu beabsichtigen, das antisemitische Ressentiment. Tatsächlich ist Israel für die Identität vieler Juden inzwischen von zentraler Bedeutung, wobei sie ihre politische Entscheidung – einen Staat in West-Asien zu unterstützen – damit verwechseln, was es bedeutet, ein guter Jude zu sein. In ihrem Film Israelism (2023) zeigen Erin Axelman und Sam Eilertsen, wie pro-zionistische Organisationen in den USA an jüdischen Privatschulen und im Kontext von Austauschprogrammen für jüdische Kinder und Jugendliche mit Israel diesen die unkritische Gleichsetzung des Judentums mit Israel nahelegen. Doch um rassistischen Verallgemeinerungen keinen Vorschub zu leisten, ist es unerlässlich, „die“ Juden gerade nicht mit Zionisten gleichzusetzen, zumal die überwältigende Mehrheit der Zionisten heutzutage evangelikale Christen sind.
Israels Premier ist sich all dessen wohl bewusst. Als er Israel in den 1980er Jahren bei den Vereinten Nationen vertrat, baute er jenes felsenfeste Unterstützungssystem auf, das heute Millionen Christen zur Unterstützung Israels mobilisiert. Schätzungen zufolge gibt es weltweit Dutzende Male mehr christliche Zionisten als Juden insgesamt. Der christliche Zionismus entstand Jahrhunderte vor Herzl, und heute glauben mehr weiße Evangelikale als amerikanische Juden, dass Gott den Juden den modernen Staat Israel gegeben hat. Es ist falsch, in jedem Juden einen Zionisten oder einen Israeli zu sehen. Aber wenn Israel eine weitere Militäraktion gegen die Palästinenser unternimmt, kann es schlichtweg gefährlich werden.
Yakov M. Rabkin ist emeritierter Historiker der Université de Montréal. 2020 erschien sein Buch Im Namen der Thora. Die jüdische Opposition gegen den Zionismus. Der Beitrag basiert auf einem Text in La Presse.